Anreise am 30.5.2021 nach Airolo über den Gotthardpass
Auch auf dieser Tour mit Jürg bin ich im Camper der Co-Pilot. Das heisst: Fliegender (= fahrender) Reporter mit scharfem Blick auf Sehenswürdigkeiten (scharf = max. 1/1000 sec. Verschlusszeit bei 100 km/h auf der Autobahn). Man sieht die Kirche von Wassen nicht nur vom Zug aus; und damit habe ich auch schon den Test bestanden.
Oben auf dem Gotthardpass fahren wir imposanten Schneemauern entlang und bald geniessen wir einen eindrücklichen Blick auf Airolo und die obere Leventina.
Jürg hat einen guten Parkplatzes nahe am Ausgangspunkt unserer Wanderung, oberhalb Airolo, recherchiert und die Koordinaten längst im Navi eingegeben. Ohne Umweg landen wir punktgenau und so schnüren wir bald unsere Wanderschuhe. Es soll ins Val Canaria gehen zu den Holunder-Fingerwurz-Orchideen (Dactylorhiza sambucina). Die Routenbeschreibung von B. Wartmann haben wir dabei.
Der Aufstieg geht nur teilweise durch den Wald und ist schweisstreibend. Es ist Mittagszeit. Wir wandern am ersten Wiesenbord vorbei, das sich lohnen würde genauer anzusehen. Vom Weg her vermute ich eine Schwefel-anemone, ein gelber Punkt im verdorrten Gras. Blühende Schwefelanemonen beschreibt auch B. Wartmann und gleich entdecke ich ein paar gelbe und rote Holunder-Orchideen. Das freut uns. Wir haben den richtigen Blühzeitpunkt erwischt, trotz grosser Unsicherheit wegen der langen Kälteperiode.
Hinter der nächsten Wegbiegung schauen wir links und im kurzen Gebirgsrasen leuchten uns rote und gelbe Orchideen entgegen. Ich meine, wir haben auch eine Hybride mit beiden Farbmerkmalen entdeckt.
Im Weiler Monte, wir sind schon auf 1500 m ü. M., biegen wir links ab und wählen den oberen Höhenweg. Wir finden nur noch an einer Stelle einige Holunder-Fingerwurze und etwas weiter ein einzelnes, schön erblühtes, männliches Knabenkraut (Orchis mascula). Fast am Ende unserer Wanderung erspähen wir hinter einem Rustico die währschafte Holzbank, die uns aus dem Buch Orchideenwanderungen von B. Wartmann in Erinnerung ist.
Zeit für eine Pause und, dank Stativ, für ein "Gruppenfoto".
Hoch über Bahn und Autobahn thront eine kleine, weisse Kirche auf dem Felsen. Wer es nicht weiss, sieht sie nicht. Jürg kennt sie und schlägt eine Besichtigung vor. Nach Faido geht es steil hinauf. Eine Herausforderung für den Camper und den Fahrer. Der Co-Pilot leistet gute Dienste. Nicht alle Spitzkehren können ohne Rangieren befahren werden.
Es gibt ganz viele Gründe zu jubeln
Am nächsten Morgen brechen wir auf mit dem Ziel Giornico und seiner eindrücklichen Kirche San Nicola aus dem 12. Jahrhundert und der kuriosen, bewohnten Insel (mit den zwei Brücken) im Fluss Ticino . Im "Grotto dei due ponti" kehren wir nicht ein, denn wir wollen ja weiter ins Valle di Blenio.
Wir parkieren ausserhalb von Leontica und sind auf 670 m ü. M.. Die 2007 installierte Hängebrücke bringt uns bequem in unser Zielgebiet. Doch schon vorher entpuppt sich eine vermeintliche Kleeblüte als dreizähniges Knabenkraut (Orchis tridentata), direkt am Strassenrand. Die Kirche San Carlo wird gerade renoviert und präsentiert sich nicht so fotogen. Ende Herbst 2021 soll die Restauration abgeschlossen sein, verrät uns ein Arbeiter.
Schon der kleine Hang am Ende der Hängebrücke überrascht uns. Einzelne angebrannte Knabenkräuter (Orchis ustulata) und sogar eine wunderschöne Gruppe. Deutlich erkennbar heben sich Blütenstände ab, die keiner bekannten Orchidee zugeordnet werden können. Es sind Hybriden zwischen Brandknabenkraut (Orchis ustulata) und dreizähnigem Knabenkraut (Orchis tridentata). Grössere Blütenstände als die der Eltern und farblich irgendwo dazwischen.
Zwei weitere solche Hybriden finden wir am Nachmittag und gerade daneben, sozusagen als Vergleich, zwei dreizähnige Knabenkräuter. Verstreut finden sich an mehreren Stellen in der grossen Wiese dreizähnige Knabenkräuter. Manchmal sind sie eher klein und in der hochgewachsenen Wiese nicht leicht zu finden.
An einer Stelle wachsen zusätzlich noch grüne Hohlzungen (Coeloglossum viride) und andere, teils schon verblühte Orchideen.
Im unteren Teil ist die Wiese mit einer nie gesehenen Fülle von Paradieslilien (Paradisea liliastrum) übersät.
Wir übernachten auf dem Lukmanierpass. Ein grosser Parkplatz mit Platz im Überfluss. Im Winter sei er gut besetzt und ist dann auch kostenpflichtig. Wir geniessen die Ruhe, die Abendstimmung und vor dem Kochen ein "Spezli". Das Kochen ist nach der Tour im Unterwallis schon eingespielt und der "Znacht" schmeckt auch heute wunderbar.
Vor dem Sonnenuntergang gibt's für mich noch eine Botanikstunde. Der Schnee ist gerade erst weg, es sieht trist aus. Erst beim zweiten Blick erkenne ich Mehlprimeln, Frühlingsanemonen und violette Krokusse.
Am nächsten Morgen verlassen wir das Tessin ... - noch nicht. Wir fahren zum Lago di Luzzone, eine gelungene Überraschung von Jürg. Gut ausgebaute Serpentinen bringen uns immer höher zu einem Stausee. Von unten sieht die Mauer bedrohlich aus. Oben tut sich eine schöne Landschaft auf. Über die Mauer gehen wir zu Fuss, aber durch die Mauer nehmen wir den Camper mit. Für die Rückfahrt warten wir auf grünes Licht. Aber die Ampel bleibt rot, und bleibt rot und bleibt rot und bleibt rot .
Jetzt verlassen wir das Tessin.
Wir fahren Richtung Oberalppass, aber nur bis zu den zwei Dörfern Tschamut-Selva. Beim Golfplatz dürfen wir unseren Camper freundlicherweise für ein paar Stunden parkieren. Jürg hat die bessere Orientierung als ich beim Loslaufen, aber bald einmal stimmt unsere Position auch mit meinem ausgedruckten Kartenausschnitt wieder überein. Ein heimlicher Blick aufs Handy auf die "Schweiz Mobil"-Karte bestätigt, dass wir auf Kurs sind. Wir müssen noch etwas Höhe zulegen. Plötzlich stoppt mich Jürg: "Ganz ruhig bleiben, keinen Schritt weiter". Ich vermute eine Riesenschlange. Aha, ein Nachtfalter. Unterwegs am helllichten Tag oder einfach aufgeschreckt durch uns. Er lässt sich ausgiebig fotografieren. Es ist ein Männchen des Kleinen Nachtpfauenauges.
Vielleicht sind wir ungeduldig, aber wir vermissen die Orchideen, insbesondere die Holunder-Fingerwurz (Dactylorhiza sambucina) die wir suchen. Ich kontrolliere die Höhe unseres Standpunktes. Wir befinden uns inmitten von hunderten Schwefelanemonen. Wir sind richtig, der Blühzeitpunkt stimmt, aber wir müssen noch etwas höher. Und hier finden wir erste rote Holunder-Fingerwurze, dann plötzlich immer mehr. Es hört nicht mehr auf. Viele sind schon am Abblühen, aber etliche sind auch noch wunderschön. Es blüht hier nur die rote Variante. Ein AGEO Autor hat vor 15 Jahren ganz euphorisch von 1000 Sambucinas geschrieben. Wahrlich, er hat nicht übertrieben.
Etwas weiter oben am Hang finden wir noch ein blühendes Manns-Knabenkraut und an einzelnen, feuchten Stellen und weiter unten sind ein paar breitblättrige Fingerwurze (Dactylorhiza majalis) am Aufblühen. Dann verlassen wir diesen Ort in Richtung Punkt 1706. Auf einer kleinen, kurzrasigen Erhebung finden wir inmitten von blauen Enzianen ein paar schöne, rote Sambucinas.
Die uns zugestandenen Parkzeit läuft ab und wir beeilen uns zurück zum Golfplatz. Was für ein Unterschied: Eine Orchideenwiese und ein Golfrasen. Jedem das Seine.
Bald ist wieder Kochzeit, im Val Cristallina
2.6.2021, unser letzter Tag, schon fast auf der Heimreise. Aber NEIN, wir suchen den im Internet rekognoszierten, einzigen geeigneten Parkplatz in einem kleinen Dorf im unteren Valsertal. Über die Hausdächer erspähen wir beim Zurückschauen noch knapp das Spital von Ilanz.
Dank Hinweisen sind wir hier und suchen das Wanzenknabenkraut (Orchis coriophora). Wir finden es an einer Stelle. Es ist klein und braucht geübte Augen. An der zweiten Stelle finden wir keine. Hunderte von Kleinen Knabenkräuter (Orchis morio) entschädigen uns (ein bisschen).
Auch die Heimreise haben wir uns ausgeschmückt: Mit kurzen Stopps hoch über der Reinschlucht; an Orten die ich nicht kannte. Danke, Jürg, für deine guten Kenntnisse unserer wirklich schönen Schweiz.
Wir wurden reich belohnt: Mit botanischen Kostbarkeiten, mit schönem Wetter und mit wertvollen Erlebnissen.
Geteilte Freude ist doppelte Freude.